Wie passt Maria Montessoris Pädagogik in die heutige Zeit?

Wie passt Maria Montessoris Pädagogik in die heutige Zeit?

Unsere Gesellschaft hat gerade die Schwelle zu einer neuen Ära überschritten. Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Das Leben, wie wir es kennen, wird sich in der unmittelbar bevorstehenden Zukunft, in der unsere Kinder in die Schule gehen werden, drastisch verändern (vgl. BMBF 2017, 7). Wenn man in diesen Zeiten eine neue Schule gründet, versucht man natürlich, die Kinder damit bestmöglich auf eben diese Zukunft vorzubereiten.

Die Fragen, die sich stellen, sind:

  1. Was müssen junge Menschen heute Lernen?
  2. Wie können sie das Lernen?

Auf den ersten Blick scheint es merkwürdig sich dafür auf die Schriften von Maria Montessori, einer Ärztin und Pädagogin, die vor rund hundert Jahren gelebt hat, zurückzubesinnen. Schaut man sich die Pädagogik von Maria Montessori genauer an, stellt man jedoch fest, dass sie Tatsachen über das menschliche Leben beobachtet und niedergeschrieben hat, die auch heute noch gelten. Denn sie hat eine Pädagogik erschaffen, die vom Menschen aus denkt.

So wie ein jeder Säugling sich nach körperlicher Nähe sehnt und man keine Außenanlage eines Altersheims ohne Sitzgelegenheiten planen würde, so haben eben auch Jugendliche, durch ihre körperliche Entwicklung vorgegebene Bedürfnisse, die universell auf alle pubertierende Menschen übertragbar sind – vor 100 Jahren wie auch heute noch.

Maria Montessori hat Jugendliche systematisch beobachtet und so festgestellt, dass die Entwicklung von Jugendlichen von zwei Dingen bestimmt wird: Der Pubertät und dem Hineinwachsen in die aktuelle menschliche Gesellschaft. Das ist eine Wahrheit über das menschliche Wesen, die auch heute noch stimmt.

Das Gehirn von Jugendlichen funktioniert in der Umbruchphase der Adoleszenz anders als zuvor und als danach. Die Wissenschaft hat bestätigt, dass zu dieser Zeit der körperlichen Reife das Gehirn umgebaut wird, was dem Körper erhebliche Energie abverlangt. Jede Lehrkraft an egal welcher Schule, die sechste, siebte, achte und neunte Klassen unterrichtet, wird bestätigen können, dass die Aufnahmefähigkeit der Kinder während ihrer Pubertät eingeschränkt ist. Statt dies zu belächeln oder gar lächerlich zu machen, ermutigt Maria Montessori dazu, dieses wichtige Entwicklungsstadium ernst zu nehmen. All ihre Beobachtungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen bündelt sie im sogenannten Erdkinderplan.

Dieser Text soll sich nun darauf konzentrieren, wie der oder die Jugendliche in die Gesellschaft hineinwächst. Was brauchen Kinder, um in der Zukunft ihre Träume verwirklichen zu können? Wie finden Sie heraus, was Sie eigentlich interessiert und mit welchen Tätigkeiten sie ihr Leben mal füllen möchten? Wie bestärkt man Kinder darin, gegen Probleme in der Welt, die sie erkennen, etwas zu unternehmen? Vielleicht ein Unternehmen zu gründen, das sich dieser Probleme annimmt?

Selbst wenn man diese Fragen für romantisch hält, muss man sich der Realität stellen, dass künstliche Intelligenz von nun an einfachere Bürotätigkeiten, insbesondere sich wiederholende, übernehmen kann. Wir sind daher davon überzeugt, dass es nicht mehr zeitgemäß ist, Kinder zum Beispiel dahingehend zu trainieren Texte zusammenzufassen oder Informationen auf Pappplakaten zusammenzustellen. Das kann künstliche Intelligenz bereits jetzt schneller und zuverlässig. Unterstrichen wird das von der Tatsache, dass künstliche Intelligenz bereits das Abitur besteht. Sprach-KIs, wie Deep-L, übersetzen Texte in Sekundenschnelle auf eine hohe Anzahl von Schriftsprachen auf einem Niveau, das mit isoliertem Sprachenlernen in der Schule kaum zu erreichen ist. 

Das bestehende Schulsystem erscheint vor diesem Hintergrund mehr und mehr wie eine Parallelwelt; die Anforderungen, die die Institution stellt, wirken von der realen Welt zunehmend entkoppelt, was nicht zuletzt an der „VUCA-Welt“ liegt, in der wir heute leben (vgl. Brämer 2023, 189f). Kreative Lösungen für Probleme zu finden und sich dazu der neusten Technologien bedienen zu können, das sind Kompetenzen, die unsere Kinder in ihrem Leben auch weiterhin brauchen werden und die sie in unserer Schule lernen sollen (vgl. Elsenau/Gorski/Zumbrink 2023, 24ff, Zumbrink 2023, 36f, Cordes/Isic 2023, 66ff, Brämer 2023, 195). Dies zu leisten wird dem Regelschulsystem aktuell noch abgesprochen (OECD 2020, 11).

Diese Problemlösekompetenzen sind wichtig. Wenn ich mich jedoch nicht gleichzeitig mit meinen Mitmenschen verständigen kann, mich nicht in sie hineinversetzen und keine Kompromisse eingehen kann, dann werde ich ebenso Probleme haben, in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft, in der kein Lebensentwurf dem anderen mehr gleicht, zurecht zu kommen. Es geht also darum, das Individuum zu stärken (vgl. Elsenau/Gorski/Zumbrink, 26) und gleichzeitig die vielen starken Individuen darin zu schulen, auch die Perspektive von anderen einnehmen zu können und als Teil einer Gemeinschaft zu handeln. (vgl. Brämer 2023, 195ff) 

Erst wenn Menschen wissen, wie sie mit ganz anderen Menschen kommunizieren können und bereit sind, die Regeln anzuerkennen, auf deren Grundlage man sich einigen kann – obwohl man unterschiedliche Standpunkte vertritt – ist ein Zusammenleben in Frieden möglich. Was Maria Montessori mit der Erziehung zum Frieden betitelt hat, nennt man heute auch Demokratielernen und ist wesentlich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Wie können junge Menschen denn nun am besten lernen? Ein Shift vom Lehren zum Lernen, der in der Erziehungswissenschaft schon lange diskutiert wird, ist auch in der Schulwelt angekommen. Immer mehr Schulen, auch Regelschulen, übernehmen Reformpädagogische Konzepte, wie sie in der Laborschule Bielefeld entwickelt werden oder wie Maria Montessori sie anbietet.

Das interdisziplinäre Denken, das die traditionellen Fachgrenzen hinter sich lässt, wird durch Projektlernen in den Mittelpunkt gestellt (Brämer 2023, 195). Schulen bemühen sich, mit außerschulischen Lernorten wie Museen, Gedenkstätten, Theatern und Kunsthallen verstärkt zusammen zu arbeiten. Und bei all dem steht die Selbstständigkeit der Kinder im Fokus (Zumbrink 2023, 39f, Elsenau/Gorski/Zumbrink 2023, 26ff), weil man heute weiß, dass Lernen nicht in erster Linie durch Lehren und Instruktion erfolgt, sondern jeder Mensch sich durch lernen die Realität selbst konstruiert. 

Daraus folgt, dass Lernen daher nicht anders, als selbsttätig erfolgen kann (vgl. Zumbrink 2023, 39f, Elsenau/Gorski/Zumbrink 2023, 26ff). Man versucht Lehrkräfte, deren Rolle sich vom Lehrenden zum Lernbegleiter weiterentwickelt, in diesem Wandlungsprozess dadurch zu unterstützen, dass Lerngruppen jahrgangsübergreifend angelegt werden. Denn in altersgemischten Gruppen unterliegt keiner mehr der Versuchung, denselben Unterricht für alle Kinder anbieten zu wollen

Zudem helfen die älteren Kinder, den jüngeren beim Erlernen der täglichen Abläufe und Lernen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten wird normal. Wer zum Lesen lernen drei Jahre braucht und nicht eins, verbringt eben drei Jahre damit (ohne sich zu schämen), wird in Leistungsvergleichen dafür aber lesen können – anders als wie jüngst festgestellt  25 % der Kinder im Regelschulsystem (vgl. IGLU-Studie), die offensichtlich nach der 1. und 2. Klasse nicht mehr die Möglichkeit erhielten, eklatante Lernlücken zu schließen.

Das Zusammenleben in einer Gemeinschaft ist in Montessoris Pädagogik ein integraler Bestandteil. Die Wichtigkeit einer sozialen Gruppe für das Lernen wird auch von der vielbeachteten Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci hervorgehoben. Laut dieser entsteht die Motivation, sich mit Sachverhalten beschäftigen zu wollen, durch die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Autonomie und Kompetenz, die beim Menschen als soziales Wesen durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe angesprochen werden (Cordes/Isic 2023, 71, Ryan/Deci 2017). Anders gesagt: Einer Gruppe anzugehören, steigert die Lust, seine Kompetenzen in die Gruppe einzubringen, denn die Kompetenzen werden von der Gruppe gesehen. Diese Lust ist dabei eine selbstbestimmte (Autonomie) und lässt sich durch Druck und Zwang zerstören (vgl. Cordes/Isic 2023, 71). 

Wie man heute weiß, ist „Spielen“ für Menschen nicht bloß ein Zeitvertreib, sondern die Art und Weise, wie wir uns die Welt zu eigen machen (Johan Huizinga). Kinder schulen ihre Kompetenzen ab der Kindergartenzeit in Rollenspielen, bei denen sie üben und beobachten, wie andere Kinder einen Tisch decken, Puppen umsorgen und es selbst ausprobieren. Auch in der politischen Bildung hat man längst die Überlegenheit von Planspielen und Rollenspielen gegenüber dem Lesen von Texten über politische Arbeit erkannt. 

Eine gute Schule verschafft daher Raum zum Spielen und Ausprobieren in einem geschützten Rahmen – und das bis zum Schulabschluss. Gerade im Kontext neuer Maschinen und Technologien finden Menschen durch Ausprobieren und Spielen heraus, was man mit diesen eigentlich machen kann. Das beste Beispiel dafür ist wohl der aktuelle Hype ums Prompten Lernen (d.h. um die Frage, wie man Künstlicher Intelligenz Befehle eigentlich so stellt, dass sie auch das tut, was man möchte), den man in sozialen Netzwerken derzeit beobachten kann. Einen „geschützten Rahmen“ zu bieten, bedeutet dabei, dass man spielen und Dinge ausprobieren kann, ohne, dass es negative Konsequenzen nach sich zieht, wenn ein Vorhaben nicht gelingt. Scheitern ist in so einem Rahmen vorläufig und der Motor für weiteres Lernen. Man darf es einfach so lange versuchen, bis es gelingt. 

Dass dieser Zeitraum für unterschiedliche Menschen unterschiedlich lang ist, leuchtet ein. Und auch, dass nicht jeder (junge) Mensch zum selben Zeitpunkt Interesse am selben Spiel hat. Was aber notwendig ist zum Spielen ist, dass die neusten Technologien dafür in einer vorbereiteten Lernumgebung zur Verfügung stehen. Maria Montessori und die Bewegung rund um das „Making“, die wir in unserer weiterführenden Schule in Form eines MakerSpace ermöglichen wollen, treffen sich an dieser Stelle und stellen das Ausprobieren ohne Erfolgsdruck, das in echtes Lernen mündet, in den Mittelpunkt. Auch deshalb verzichten wir in unserer Schule auf Noten und vergleichende Zeugnisse, so lange es geht, stellen aber den Zugang zu einer vorbereiteten Lernumgebung für alle Kinder sicher.

Also wirklich ein Konzept von vor fast 100 Jahren für eine moderne Schule?

Maria Montessori hat ihr Konzept zwar bereits 1939 veröffentlicht. Von ihr erdachte pädagogische Maßnahmen, wie fächerübergreifendes Lernen, jahrgangsübergreifende Lerngruppen und das Kind als Individuum in den Mittelpunkt zu stellen, sind in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion heute aber aktueller denn je. Wir haben den Anspruch, diese Erkenntnisse in die Wirklichkeit zu übertragen und dabei den Transfer von Montessoris Vorstellungen in die heutige Zeit zu leisten, wo es nötig ist. 

Literatur und Quellen:

BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017: Nationaler Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung – Der deutsche Beitrag zum UNESCO-Weltaktionsprogramm, Bonn, DLR.

Brämer, Alexander. 2023. „BNE als Leitperspektive für eine zukunftsorientierte Schulentwicklung“. S. 189–203 in: Elsenau, Detlef von, Sonja Gorski, und Kara Zumbrink, Hrsg.: Bildung für nachhaltige Entwicklung: ein Leitfaden für eine wirkungsorientierte Transformation von Schule und Unterricht. 1. Auflage. Berlin: Cornelsen

https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/chatgpt-ki-besteht-bayerisches-abitur-mit-bravour,TfB3QBw

https://www.aerzteblatt.de/archiv/141049/Hirnentwicklung-in-der-Adoleszenz

Elsenau, Detlef von, Sonja Gorski, und Kara Zumbrink (2023): „Herausforderungen und Chancen“. S. 13–32, in: Elsenau, Detlef von, Sonja Gorski, und Kara Zumbrink, Hrsg.: Bildung für nachhaltige Entwicklung: ein Leitfaden für eine wirkungsorientierte Transformation von Schule und Unterricht. 1. Auflage. Berlin: Cornelsen.

McElvany, Nele/Lorenz, Ramona/Frey, Andreas/Goldhammer, Frank/Schilcher, Anita/Stubbe, Tobias C. (2021): IGLU 2021. Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre. Münster, New York: Waxmann 2023 https://www.pedocs.de/volltexte/2023/28075/pdf/McElvany_et_al_2023_IGLU_2021_Lesekompetenz.pdf (Zugriff 7.3.24)

OECD (2020): OECD Lernkompass 2030. OECD-Projekt Future of Education and Skills 2030. Rahmenkonzept des Lernens. https://www.oecd.org/education/2030-project/contact/OECD_Lernkompass_2030.pdf

Zumbrink, Kara. 2023. „Bildungsziele und Kompetenzen für das 21. Jahrhundert“. S. 33–41 in: Elsenau, Detlef von, Sonja Gorski, und Kara Zumbrink, Hrsg.: Bildung für nachhaltige Entwicklung: ein Leitfaden für eine wirkungsorientierte Transformation von Schule und Unterricht. 1. Auflage. Berlin: Cornelsen.

„Freude ist ein Indiz des inneren Wachstums.“

– Maria Montessori

Foto: Public domain photograph of Maria Montessori from 1913